Anerkennung und der Beitrag der Kirchen dazu

09.09.2020

«Anerkennen»: So lautet das Motto des Aufrufs von Kirchen und Kanton Luzern in ihrem Aufruf zum Bettag vom 20. September. Kantonsratspräsidentin Ylfete Fanaj und Regierungspräsident Reto Wyss über Anerkennung in der Politik und die Rolle der Kirchen im Staat.

Der Bettagsaufruf ist so etwas wie eine Sonntagspredigt mitten im politischen Alltag. Warum überhaupt diese Aktion?
Reto Wyss: Der Bettag ist von der Geschichte her ein staatlicher Feiertag. Daraus leiten Kanton und Kirchen ihren gemeinsamen Bettagsauftritt ab, der seit 2009 praktiziert wird. Der Bettagsaufruf ist also keine Alibiübung und auch kein Traktandum, das in der Regierung nicht die erforderliche Beachtung findet. Wir setzen uns mit dem Text auseinander.

Inwiefern?
Reto Wyss: Die Regierung unterschreibt den Aufruf und will zu ihren Aussagen stehen können. Es soll sich in dieser heiklen Konstellation Kirche und Staat niemand vor den Kopf gestossen fühlen.

Ylfete Fanaj, Sie gehören als Muslimin schon seit Jahren der Arbeitsgruppe an, welche die Bettagsaktion vorbereitet? Warum dieses Engagement?
Ylfete Fanaj: Der Bettagsaufruf ist auch von der Islamischen Gemeinde als nicht anerkannte Religionsgemeinschaft unterschrieben. Für mich ist das eine symbolisch wichtige Botschaft von Gemeinsamkeit und Dialog. Ich leiste nur einen kleinen Beitrag. Aber gerade im Sinne des diesjährigen Mottos «Anerkennen» sind auch kleine Zeichen wichtig, um die Wertschätzung für die kirchliche Arbeit auszudrücken.

Sie haben vor kurzem mit der Wahl zur Kantonsratspräsidentin grosse Anerkennung erfahren. Wie wichtig ist Ihnen das?
Ylfete Fanaj: Anerkennung tut gut, in welcher Position auch immer. Man sollte sie im Alltag noch viel mehr ausdrücken. Manchmal sind es Kleinigkeiten, mit denen man Menschen wertschätzen und bestärken kann. Insbesondere, wenn wir ihnen zuhören und etwas Zeit schenken.

Regierungspräsident Reto Wyss. | | © 2020 Roberto Conciatori

Als Regierungsrat erhält man in der Regel mehr Kritik als Anerkennung.
Reto Wyss: Jeder Mensch braucht Anerkennung. Natürlich bekommen wir nicht gerade jeden Tag Liebesbriefe. Aber es gibt immer wieder Momente und Gelegenheiten, bei denen Bürgerinnen und Bürger – Bekannte und Unbekannte – ihre Anerkennung und Wertschätzung ausdrücken. Ich denke, das ist ein mindestens so wichtiger Faktor, um eine Arbeit gut und mit Freude auszuüben, wie der materielle Teil. Darum ist es wichtig, dass wir Menschen in ihren unterschiedlichsten Tätigkeiten Respekt und Anerkennung zollen. Unsere Gesellschaft funktioniert nur, wenn alle Rädchen sich drehen.

Sie beide haben für ihr «Regierungsjahr» ein Motto gewählt, das dem «Anerkennen» des Bettagsaufrufs sehr ähnlich ist: Verbinden. Das steht heute etwas quer in der Politlandschaft, wo meistens das Trennende, die Abgrenzung betont wird. Reto Wyss, Sie gehören einer sogenannten Mittepartei an: Wie schwierig ist es im politischen Alltag, «die Mitte» zu finden?
Reto Wyss: Es ist insbesondere schwierig, eine Mitteposition als politische Leistung zu verkaufen. Diese Erfahrung haben wir in der CVP in den vergangenen Jahren machen müssen. Kompromisse haben im politischen Alltag oft den Ruf des «faulen Kompromisses». Ich bin jedoch unvermindert der Überzeugung, dass es der Schweiz so gut geht, weil wir im Grundsatz den Konsens anstrengen. Darum ist es wichtig, für Kompromisse einzustehen und auf gemeinsame Lösungen hinzuarbeiten.

«Anerkennung ist ein mindestens so wichtiger Faktor, um eine Arbeit gut und mit Freude auszuüben, wie der materielle Teil.»

Reto Wyss, Regierungspräsident

Ylfete Fanaj, als Sozialdemokratin gehören Sie in der gängigen Diktion einer Pol-Partei an. Wie wichtig sind für Sie Werte wie Verbinden und Kompromisse?
Ylfete Fanaj: Ebenfalls mit Blick auf unsere Geschichte stelle ich fest: Erst dann, als wir anerkannt haben, dass man durchaus verschiedene Meinungen haben und trotzdem einen gemeinsamen Weg gehen kann, erst dann sind wir in der Schweiz weitergekommen und erfolgreich geworden. Wir haben als politische Parteien unterschiedliche Rollen. Polarisierung entsteht, wenn man sich ausgeschlossen fühlt. Es ist wichtig, dass die grösseren Parteien die kleineren anerkennen und bereit sind, die Minderheiten in den Dialog einzubeziehen und in die Verantwortung einzubinden. Das war in unserm Kanton in den letzten Jahren – zum Teil der finanziellen Lage geschuldet – nicht gegeben.

Sie unternehmen jetzt gemeinsam einen Versuch des Verbindens: Was können Sie konkret tun, damit möglichst viele Menschen «das Gemeinsame statt das Trennende entdecken», wie es in Ihrem Motto heisst?
Reto Wyss: Es soll mehr als ein Motto sein. Wir planen gemeinsame Veranstaltungen, bei denen wir mit möglichst vielen Menschen unseres Kantons ins Gespräch kommen wollen. Wir wollen insbesondere auch zeigen, dass wir zuhören können und nicht einfach unsere Botschaften überbringen.
Ylfete Fanaj: Ja, es geht um eine Haltung, die unser Jahr an der politischen Spitze des Kantons prägen soll. Wir wollen mit gutem Beispiel vorangehen und das Verbindende betonen. Diese Überzeugung soll bei allen unseren Auftritten und Aktivitäten spürbar sein.

Kantonsratspräsidentin Ylfete Fanaj. | © 2020 Roberto Conciatori

Anerkennen und Verbinden: Wie wichtig sind die Kirchen in diesem Bereich?
Ylfete Fanaj: Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen enorm wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie bieten Gemeinschaft, Lebenshilfe, Spiritualität und Seelsorge. Und ganz zentral: Sie ergänzen staatliche Leistungen sehr wirkungsvoll. Darum ist ihre öffentlich-rechtliche Anerkennung so bedeutsam. Aber auch die nicht offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften leisten wichtige Arbeit.
Reto Wyss: Das kann ich nur bestätigen. Ich spüre das bei meiner Tätigkeit immer wieder. Die Kirche nimmt uns im gesellschaftlichen und sozialen Bereich einen Teil der Arbeit ab und ist eine wertvolle Ergänzung, die wir hoch schätzen. Die Partnerschaft mit den drei Landeskirchen und den weiteren Religionsgemeinschaften hat sich in den vergangenen Jahren sehr bewährt.

Die Kirchen verlieren Mitglieder und damit finanzielle Mittel. Droht eine Verschärfung der Lage im sozialen Bereich, weil ja auch der Staat eher auf der Sparbremse steht?
Ylfete Fanaj: Wir müssen uns bewusst sein, dass jeder Kirchenaustritt dazu beiträgt, dass der Staat längerfristig wieder mehr Aufgaben übernehmen muss. Ich bedaure jeden Kirchenaustritt, auch wenn ich viele Gründe gut verstehe. Aber man entzieht damit nicht dem Vatikan, sondern der Kirche vor Ort jene Mittel, die sie sehr sinnvoll einsetzt. Etwa bei der Gassenarbeit, Freiwilligenarbeit oder im Asylwesen.

«Kirchen und Religionsgemeinschaften bieten Gemeinschaft, Lebenshilfe, Spiritualität und Seelsorge. Und ganz zentral: Sie ergänzen staatliche Leistungen sehr wirkungsvoll.»

Ylfete Fanaj, Kantonsratspräsidentin

Der Asylbereich birgt auch Konfliktpotenzial zwischen Kirche und Staat. Etwa wenn es um Kirchenasyl geht. Da stehen sich Staatsräson und Gewissen manchmal im Weg.
Reto Wyss: Das ist so. Entscheide zu fällen, die für Menschen einschneidende Folgen haben, führt manchmal zu schweren inneren Konflikten. Als Politiker sind wir aber dem Recht verpflichtet und müssen unsere Arbeit auf den Grundlagen der Gesetze leisten. Es ist auf der anderen Seite legitim, dass eine Kirche in gewissen Fragen eine pointiertere Haltung einnimmt, weil sie eine ganz andere Grundlage hat.
Ylfete Fanaj: Wir leben in einem Rechtsstaat und in diesem Rahmen müssen wir uns alle an die Gesetze halten, egal, welche Gesinnung wir haben. Und trotzdem finde ich es wichtig, dass die Kirchen die Aufmerksamkeit auf Anliegen besonders verletzlicher Gruppen legen und deren Rechte einfordern. Sie sollen und müssen ihre Stimme erheben, den Finger auf wunde Punkte legen und so zum moralischen Kompass für uns Politikerinnen und Politiker werden.

Vor 50 Jahren hat der Kanton Luzern die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche als Landeskirchen anerkannt. Das gilt schon seit 1932 auch für die christkatholische Gemeinde. Heute stellt sich die Frage, ob nicht weitere Religionsgemeinschaften, insbesondere der Islam, eine öffentlich-rechtliche Anerkennung erhalten müssten. Wie ist der Stand der Dinge im Kanton Luzern?

Reto Wyss: Mit der Totalrevision der Staatsverfassung wurde die Grundlage für die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften geschaffen. Seither gab es mehrfach Überlegungen und Gespräche in dieser Richtung. Aber zu konkreten Ergebnissen haben diese Bemühungen bisher nicht geführt.

Ylfete Fanaj: «Das Gesetz regelt die Voraussetzungen und das Verfahren», heisst es in der Verfassung. Doch dieses Gesetz existiert noch nicht. Und die Zeit dafür ist – realistisch betrachtet – noch nicht reif. Auch die heutigen Landeskirchen mussten einen weiten Weg gehen, bevor sie anerkannt wurden. Das ist ein langer politischer Prozess. Darum ist es wichtig, dass wir uns heute auf diesen Weg machen. Wenn wir überzeugt sind, dass die Religionsgemeinschaften einen wichtigen gesellschaftlichen Stellenwert haben, dann müssen wir auch über die Nichtanerkannten reden. Sie haben heute eine rechtliche Stellung wie ein Fussballverein. Der verstärkte Dialog und eine verbindlichere Zusammenarbeit etwa mit dem Islam böte auch Gelegenheit, Sachverhalte zu klären und Ängste abzubauen.

Reto Wyss: Grundsätzlich einverstanden. Die bisherigen Bemühungen aber haben deutlich gezeigt, dass es in der Praxis einige handfeste Probleme gibt. Wir haben zum Beispiel keinen einheitlichen Ansprechpartner. Auch in der Frage der steuerlichen Hoheit gibt es noch viele ungelöste Fragen. Wir machen es uns nicht einfach und es ist wohl noch ein langer Weg.

Ylfete Fanaj: Das ist so. Aber der Kanton kann auf diesem Weg Unterstützung bieten. Das beginnt bei alltagspraktischen Fragen wie etwa, bei der Seelsorge Lösungen zu finden. Vor allem müsste der Kanton klar kommunizieren, dass er gewillt ist, diesen Weg zu gehen und die anstehenden Probleme anzupacken.

Haben Sie Ihrerseits aus Sicht der Politik ein Anliegen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften?

Reto Wyss: Ich wünsche mir, dass wir unsere Partnerschaft, die gegenseitige Ergänzung und Zusammenarbeit weiterhin pflegen können. Sie kommt letztlich der gesamten Luzerner Bevölkerung zugute.

Ylfete Fanaj: Sie sollen eine andere Sicht öffnen für uns Politikerinnen und Politiker, die wir oft gefangen sind im Tagesgeschäft und eingebunden in unsere Parteien. Stimmen von aussen zu hören, ist deshalb sehr wertvoll.

Zum Schluss: «Der Bettag sollte auch ein Denk-Tag» sein, heisst es im Aufruf des Regierungsrats und der Kirchen. Kommen Sie im hektischen politischen Alltag überhaupt noch dazu, vertieft nachzudenken?

Reto Wyss: Ich hoffe schon, dass sich die Reflexion nicht nur auf den Bettag beschränkt. Ich selber versuche, mir immer wieder Zeitfenster herauszunehmen. Eine gute Gelegenheit sind etwa die Sommerferien. Da kann ich mich über längere Zeit in ein Thema vertiefen. Wichtig ist mir auch, regelmässig über meine eigene Arbeit nachzudenken: Was mache ich, und wie mache ich es?

Ylfete Fanaj: Ich funktioniere etwas anders.Wenn ich ein Zeitfenster habe, um über etwas nachzudenken, dann kommen mir meistens nicht besonders gute Ideen. Die besten Denkanstösse erhalte ich in Gesprächen mit verschiedensten Menschen. Beim Philosophieren bei einem guten Essen etwa. Darum ist es mir wichtig, genügend Zeit zu reservieren für Freundschaften und Diskussionen.

Interview: Stefan Calivers, Chefredaktor des «Willisauer Bote»

Kantonsratspräsidentin Ylfete Fanaj und Regierungspräsident Reto Wyss . | © 2020 Roberto Conciatori
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«Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen enorm wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft»: Kantonsratspräsidentin Ylfete Fanaj und Regierungspräsident Reto Wyss im Gespräch. | © 2020 Roberto Conciatori

Bettag, Kirchen und Kanton

Anerkennen: Kirchen und Kanton Luzern stellen dieses Jahr ihre Aktion zum Bettag unter dieses Motto. Geplant war im Jubiläumsjahr der Landeskirchen, die Bevölkerung am Bettag zu einer öffentlichen Feier in die Festhalle Willisau einzuladen. Dieser Anlass musste wegen der Corona-Schutzmassnahmen abgesagt werden. So wird der Bettag im gewohnten Rahmen mit örtlichen Feiern begangen. Plakate und Spots in den Bussen weisen auf die Aktion hin. Zusätzlich schalten die Kirchen Zeitungsinserate mit dem Sujet des Bettagsplakats 2020. Sie legen dabei den Fokus auf das «Danke» im Bettag. Denn es gibt für sie allen Grund dafür, Danke zu sagen: Als Kirchen für die ihnen geschenkte Anerkennung, der Bevölkerung für die Solidarität, welche die Gesellschaft in dieser herausfordernden Zeit trägt. Das Interview mit Kantonsratspräsidentin Ylfete Fanaj und Regierungspräsident Reto Wyss ergänzt diese Kampagne. Es erscheint in vielen Zeitungen im Kanton Luzern.

Die drei Luzerner Landeskirchen und der Kanton treten seit 2009 mit einer Aktion zum Bettag an die Öffentlichkeit. Daran beteiligt sich jeweils auch die Islamische Gemeinde Luzern. Die Aktion soll dazu beitragen, dass der Bettag von der Bevölkerung unseres Kantons wahrgenommen wird und zum Nachdenken anregt.

Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag wird seit 1848 in allen Kantonen jeweils am dritten Sonntag im September gefeiert. Obwohl der Bettag an Bedeutung verloren hat und nicht mehr alle Kantonsregierungen eigene Bettagsworte herausgeben oder sich an solchen beteiligen, hat ein staatlicher, über Konfessionsgrenzen reichender Feiertag bis heute seinen Sinn nicht verloren. Im Kanton Luzern gilt der Bettag weiterhin als Hoher Feiertag, in einer Reihe mit dem Karfreitag, dem Ostersonntag oder dem Weihnachtstag.